Clanget Konferenz1

KANZLEI

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass Gerichte eine Rechtspflicht zur Publikation veröffentlichungswürdiger Gerichtsentscheidungen haben.

 

I. Entscheidung

Mit Beschluss vom 14. September 2015 - 1 BvR 857/15 hat das BVerfG entschieden, dass für Gerichte die grundsätzliche Rechtspflicht zur Publikation veröffentlichungswürdiger Gerichtsentscheidungen besteht.

Diese Veröffentlichungspflicht erstreckt sich nicht nur auf rechtskräftige Entscheidungen, sondern kann bereits vor Rechtskraft bestehen und bezieht sich auf die Entscheidungen als solche in ihrem amtlichen Wortlaut. Ein Anspruch auf Akteneinsicht besteht grundsätzlich nicht.

 

Diese Veröffentlichungspflicht ist jedoch nicht umfassend. Hinsichtlich persönlicher Angaben und Umstände der Parteien bzw. verurteilter Personen sind die Gerichtsentscheidungen in der Regel zu anonymisieren.

Soweit Medien nach dieser Veröffentlichungspflicht Gerichtsentscheidungen zugänglich gemacht werden, so haben sie aber auch weiterhin die Grundsätze der Zurückhaltung bei Verdachtsberichterstattung oder zur Zurückhaltung bei Berichten über zurückliegende Straftaten, die die Resozialisierung von Straftätern beeinträchtigen, zu beachten. Den Medien obliegt insoweit eine gesteigerte Sorgfaltspflicht.

 

Eine Veröffentlichungspflicht für Gerichte kann jedoch dann ausgeschlossen sein, wenn durch die Veröffentlichung von Urteilen, die konkrete Gefahr einer Beeinträchtigung (etwa von Zeugen oder Schöffen) eines weiteren oder anderer Gerichtsverfahren besteht. Gerichtsentscheidungen können dann von den Gerichten auch vollständig zurückgehalten werden.

 

Die Entscheidung gilt nur für schriftliche Urteilsgründe nach Abschluss – nicht notwendigerweise rechtskräftigem Abschluss- eines Verfahrens. Ein Anspruch auf Überlassung der Anklageschrift besteht nicht, die öffentliche Mitteilung einer Anklageschrift vor einer öffentlichen Verhandlung ist nach § 353d Nr. 3 StGB strafbar.

 

Welche Entscheidungen veröffentlichungswürdig sind bemisst sich nach dem BVerfG unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nach dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Interesse der Öffentlichkeit, BVerwG NJW 1997, 2694, 2695.

 

II. Anmerkung

Die Entscheidung des BVErfG wird dazu führen, dass Gerichte mehr Pressearbeit vornehmen (müssen). Gleiches gilt auch für Rechtsanwälte und Strafverteidiger, um einer einseitigen oder verzerrten medialen Darstellung von aus dem Zusammenhang gerissenen Teilen einer Urteilsbegründung im Interesse ihrer Mandanten entgegen zu wirken.

 

Als veröffentlichungswürdig werden Urteile solcher Verfahren anzusehen sein, für die schon vor Urteilsverkündung ein öffentliches Interesse bestand. In Verfahren, in denen ein solches öffentliches Interesse nicht besteht, wird eine Entscheidung auch unter dem Gesichtspunkt eines mutmaßlichen öffentlichen Interesses nicht als veröffentlichungswürdig zu erachten sein.

 

Es wird nicht selten vorkommen, dass durch die Veröffentlichung von Urteilen, die konkrete Gefahr einer Beeinträchtigung (etwa von Zeugen oder Schöffen) eines weiteren oder anderer Gerichtsverfahren besteht. Hier wird die Gefahr der Beeinträchtigung gerade für solche Folgeverfahren bestehen, die ihrerseits selbst ein großes öffentliches und mediales Interesse auf sich ziehen. Um in den Folgeverfahren nicht schon mit der Bürde eines echten Vor-Urteils antreten zu müssen, wird darauf hinzuwirken sein, dass eine Veröffentlichungspflicht zumindest in diesen Fällen ausgeschlossen ist.

 

Soweit auch nach der postulierten Veröffentlichungspflicht Gerichtentscheidungen hinsichtlich persönlicher Angaben und Umstände in der Regel zu anonymisieren sind, bleibt offen wie weit, dieser Anonymisierungsanspruch der Betroffenen geht.

Fallen hierunter nur persönliche Angaben im strafprozessualen Sinne, wie etwa Angaben zur Person (Ausbildungsweg, Familienstand, Einkommen usw.) oder ist diese Einschränkung weiter und gilt für sämtliche persönlichen Umstände?

Die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts –„persönliche Angaben und Umstände“- sprechen für einen weitergehenden und über die reinen persönlichen Angaben hinausgehenden Anonymisierungsanspruch der Betroffenen. So werden auch solche persönlichen Umstände, die im Kern nichts mit dem festgestellten Sachverhalt und den Urteilsgründen zu tun haben, wie das Steuergeheimnis (§ 30 AO), eine Suchtproblematik, eine (psychische) Erkrankung, aber auch Strafzumessungserwägungen zu anonymisieren sein.

Es wird die Aufgabe der Rechtsbeistände der Betroffenen sein, unter Hinweis auf das verfassungsrechtlich ebenso geschützte Persönlichkeitsrecht, den Anonymisierungsanspruch der Betroffenen den Gerichten gegenüber zu verdeutlichen und ggf. durchzusetzen.